Damals am Straßenrand
Ihre Lebenssituation gleicht einer Katastrophe. Wie viele Schicksalsschläge kann ein einzelner Mensch verkraften? Zwei Ehemänner verstorben und sie noch immer kinderlos. So viele Stunden, Tage und Jahre hat sie gebangt, geduldig gewartet, gehofft. Doch das Versprechen wurde nicht eingelöst: Sein dritter Sohn ist inzwischen ein Mann, doch nicht ihr Mann. Und ihrem Mann, dem ersten, konnte sie noch immer nicht zu Recht verhelfen. Sie befindet sich in einer Notlage. Mutig setzt sie alles auf eine Karte, setzt alles ein, was sie noch hat. Ihre Ehre und ihr Leben.
Ihre Sorgen und ihre Loyalität haben sie hierher geführt. Hier an dieses Stadttor, an diesem sonnigen Tag, geschickt am Wegrand platziert. Sie, die Witwe. Verkleidet, das Gesicht verhüllt, unkenntlich. Wie eine Hure. Und trotzdem sitzt sie aufrecht, sie ist sich sicher, dass Richtige zu tun. Sie wartet. Juda, ihr Schwiegervater – er wird schon kommen.
Es sind befremdliche Bräuche, die im Hause Israel üblich sind. Damals, zur Zeit der Stammväter, als Josef, Juda, Jakob und all die anderen lebten. Gott hatte Abraham versprochen, dass seine Nachkommen so zahlreich wie der Sand am Meer würden. Kinderlos zu bleiben, das bedeutet, aus dieser Verheißung ausgeschlossen zu sein; dazu verdammt zu sein, vergessen und aus dem Gedächtnis des Volkes gestrichen zu werden. Eine Katastrophe. Es gibt für verwitwete nur einen Weg, dem zu entgehen: Mit einer Schwagerehe – der Hochzeit mit dem Bruder des Verstorbenen. Darauf hat die Witwe ein Recht.
Doch die Frau unserer Geschichte hat Pech gehabt: Auch ihr Schwager stirbt und wieder wird kein Erbe hinterlassen. Auf die Eheschließung mit dem dritten Bruder, der zu Beginn noch zu jung ist, um zu heiraten, wartet sie vergeblich. Der Schwiegervater müsste sie nach jüdischem Recht veranlassen, als dieser erwachsen ist. Aber Juda hat wohl vergessen, was seine fromme Pflicht ist.
Da sitzt sie also, mutig und unerschrocken. Ganz recht ist es nicht, was sie sich überlegt hat, aber es ist eine Notlösung. Und ihr Plan geht auf: Sie wird schwanger, endlich schwanger – schwanger von ihrem Schwiegervater. Schwanger mit Zwillingen.
Dann geht alles ganz schnell. „Juda, deine Schwiegertochter, sie hat sich prostituiert!“ Die Gerüchteküche brodelt. Der Schwiegervater ist erbost. Er tobt. „Schafft sie her!“ Prostitution, das bedeutet in diesem Fall Ehebruch. Darauf gibt es nur eine Antwort: Die Todesstrafe. „Verbrennt sie!“, befiehlt er. Er, der sich plötzlich an seine frommen Pflichten zu erinnern scheint.
Ein Glück hat sie vorgesorgt. Sie ist eine kluge Frau. Sie kann beweisen, dass Juda ihr Freier und somit der Vater ihrer ungeborenen Kinder ist.
Showdown. Juda ist mit seinem eigenen Fehlverhalten konfrontiert. Der Stammvater, der sich für fromm haltende, das Vorbild, der in der Mitte der Gesellschaft stehende muss anerkennen:
„Tamar, du bist gerechter als ich.“
Schon da beginnt sie. Die Botschaft des neugeborenen Heilands. Am Rand der Gesellschaft, am Rand der Straße, bei einer scheinbaren Hure, die einem scheinbaren Frommen den Spiegel vorhält. Es ist die Geschichte eines Heilands, der bestehende Verhältnisse umkehrt: bei dem die Armen reich, die Leidenden getröstet und die Hungrigen satt werden. Die Geschichte eines Heilands, der gekommen ist, die gottesfernen Menschen gerecht zu machen. Damals, heute und in Ewigkeit.
Wer die Geschichte von Tamar nachlesen möchte, findet sie in der Bibel unter Gen 38.
Der Stammbaum Jesu (Mt 1,1-6)
Dies ist das Buch der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams. Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Juda zeugte Perez und Serach mit der Tamar. Perez zeugte Hezron. Hezron zeugte Ram. Ram zeugte Amminadab. Amminadab zeugte Nachschon. Nachschon zeugte Salmon. Salmon zeugte Boas mit der Rahab. Boas zeugte Obed mit der Rut. Obed zeugte Isai. Isai zeugte den König David. David zeugte Salomo mit der Frau des Uria. Salomo zeugte Rehabeam. Rehabeam zeugte Abija. Abija zeugte Asa. Asa zeugte Joschafat. Joschafat zeugte Joram. Joram zeugte Usija. Usija zeugte Jotam. Jotam zeugte Ahas. Ahas zeugte Hiskia. Hiskia zeugte Manasse. Manasse zeugte Amon. Amon zeugte Josia. Josia zeugte Jojachin und seine Brüder um die Zeit der babylonischen Gefangenschaft. Nach der babylonischen Gefangenschaft zeugte Jojachin Schealtiël. Schealtiël zeugte Serubbabel. Serubbabel zeugte Abihud. Abihud zeugte Eljakim. Eljakim zeugte Azor. Azor zeugte Zadok. Zadok zeugte Achim. Achim zeugte Eliud. Eliud zeugte Eleasar. Eleasar zeugte Mattan. Mattan zeugte Jakob. Jakob zeugte Josef, den Mann Marias, von der geboren ist Jesus, der da heißt Christus.
Ein Beitrag von Jaira Hoffmann, Diakonin und Sozialarbeiterin in den Westerwaldgemeinden der SELK